»Verrückte Situation« auf Gießener Immobilienmarkt

  • VonKays Al-Khanak

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Die Bauzinsen haben sich seit Jahresbeginn mehr als verdoppelt. Gleichzeitig steigen die Preise für Bestandsimmobilien und Neubauten. Experten sprechen von einer »verrückten Situation«

Es ist eine verzwickte Situation für Menschen, die ein Eigenheim kaufen oder bauen wollen: Auf der einen Seite ist die Nachfrage nach Immobilien größer als das Angebot; dementsprechend steigen die Kosten für Grundstücke, Häuser und Wohnungen weiter. Auf der anderen Seite haben sich die Bauzinsen seit Jahresanfang mehr als verdoppelt. So sind die Zinsen für ein Darlehen über zehn Jahre von einem auf 2,5 Prozent gestiegen. »Wenn wir auf die letzten zehn Jahre zurückschauen, sind die Bauzinsen zu keinem Zeitpunkt so schnell und so stark gestiegen wie jetzt«, sagt Mirjam Mohr von Interhyp, einem der führenden Vermittler privater Baufinanzierungen mit Hauptsitz in München und einer Niederlassung in Gießen. »Wir erwarten weitere Zinssteigerungen und halten im Jahresverlauf 3 Prozent für zehnjährige Darlehen für realistisch.«

Straffere Geldpolitik der Notenbanken

Die Hauptgründe für die stark gestiegenen Zinsen seien die deutlich gestiegene Inflation und die Erwartungen an eine straffere Geldpolitik der Notenbanken, sagt Mohr. In den vergangenen Wochen habe auch der Krieg in der Ukraine die Inflation weiter befeuert. Gleichzeitig herrsche auf dem Immobilienmarkt eine »verrückte« Situation, wie Marina Fleischhauer von der Volksbank Mittelhessen betont: Die Kaufpreise für Immobilien »galoppieren« davon, die Materialpreise steigen weiter. »Wenn man im Dezember ein Haus geplant und ein Angebot vom Fensterbauer oder einem anderen Gewerk eingeholt hat und vier Monate später diese Preise nicht mehr gegeben sind, merken das unsere Privatkunden deutlich.«

Wie Mohr von Interhyp sagt, setzten viele Banken auf eine sichere Finanzierung. »Viele verlangen Mindesttilgungen von zwei Prozent.« Die Geldinstitute achteten außerdem darauf, dass ausreichend Eigenkapital in die Finanzierung eingebracht werde. Die Beleihung, also der Anteil der Finanzierung am Kaufpreis, sei leicht gesunken.

Fleischhauer betont, sie rate ihren Kunden in dieser Situation, solide zu planen »und ganz viel den Kopf zu nutzen und weniger das Herz«. Sie müssten sich fragen, ob das geplante Investment noch zu den Lebensumständen passe. Bleibt am Monatsende genug übrig? Will man in den nächsten Jahren auf den Urlaub verzichten? »Man muss mit spitzem Bleistift rechnen und ehrlich zu sich selbst sein«, sagt Fleischhauer. »So eine Finanzierung läuft zum Teil über Jahrzehnte. Deshalb sollte man in dieser Planungsphase mit ordentlich Puffer für Preissteigerungen in jedem Gewerk rechnen.« Wenn bei einem laufenden Kredit die zehnjährige Zinsbindung ausläuft, sollten sich Kunden frühzeitig mit der Bank in Verbindung setzen, sagt Fleischhauer, um eventuell ein Angebot für ein Vorratsdarlehen einzuholen.

Gerade dies beobachtet Mohr von Interhyp: »Der Anteil von sogenannten Forward-Darlehen unter den Anschlussfinanzierungen ist von 45 Prozent im Jahresdurchschnitt 2021 auf 52 Prozent in 2022 gestiegen.« Diesen Umstand bestätigt auch die Sparkasse Gießen. Wie deren Sprecherin Marina Böcher sagt, würden diese Forward-Angebote verstärkt nachgefragt, um sich das immer noch vergleichsweise günstige Zinsniveau für die Anschlussfinanzierung zu sichern. Generell sei festzustellen, dass die Nachfrage nach Baukrediten weiterhin hoch sei. Durch die gestiegenen Zinssätze in Verbindung mit gestiegenen Nebenkosten aufgrund der erhöhten Energiepreise würden sich für Kunden »deutlich höhere Belastungen für den monatlich zu erbringenden Kapitaldienst« ergeben. »Wir achten bei unserer Kreditvergabe insbesondere auf eine ausreichende Überdeckung der Einnahmesituation gegenüber der Ausgabensituation während der gesamten Darlehenslaufzeit«, sagt sie. Wichtig sei auch eine ausreichende Tilgungsleistung der Kunden, um das Baudarlehen zurückzahlen zu können. Und: »Grundsätzlich erwarten wir einen adäquaten Eigenkapitaleinsatz.«

Mohr von Interhyp erklärt, dass viele ihrer Kunden besorgt seien und einen Druck empfinden würden, sich noch schnell günstige Kredite zu sichern. »Wir beobachten auch, dass die Menschen sich die günstigen Zinsen verstärkt wieder länger sichern wollen. Andere gingen Kompromisse ein, entschieden sich zum Beispiel für eine Immobilie, »die etwas günstiger ist als die eigentlich ersehnte Traumimmobilie«.

Historisch noch in Niedrigzinsphase

Historisch gesehen befinden wir uns laut Experten aber noch immer in einer Niedrigzinsphase: Mitte der 2000er Jahre lag des Zinsniveau noch zwischen 4 bis 6 Prozent. »Natürlich sind wir davon noch entfernt«, betont Fleischhauer von der Volksbank. Mit dem Zinsanstieg sei zu rechnen gewesen – »aber dass er so schnell so hoch steigt, überrascht uns alle«. Gleichzeitig habe sich die Investitionssumme für eine Immobilie »unfassbar erhöht«: Wer ein Einfamilienhaus kaufen oder bauen will, muss viel mehr zahlen als noch vor zehn oder 15 Jahren. »Und dann macht die Zinssteigerung bei dem Einzelnen deutlich etwas aus.«

INFO

Beispielrechnung

Wie sich die Zinssteigerung auswirkt, hat Mirjam Mohr von Interhyp vorgerechnet: Der Anstieg der Zinsen für zehnjährige Darlehen von 1 Prozent zu Jahresbeginn auf 2,5 Prozent bedeutet bei einem Immobilienkredit über 300 000 Euro und einer anfänglichen Tilgung von 3 Prozent, dass die Monatsrate von 1000 auf 1375 Euro gestiegen ist – also um fast 400 Euro im Monat. Pro Jahr sind das zusätzliche Zinskosten von 4500 Euro.

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